... ich stimme dir zu, dass ein generalisiertes Loslassen politischer Ansichten nicht sinnvoll ist.
Ich kann mir vorstellen, dass dies für manche Menschen erst mal nicht so leicht nachvollziehbar ist. Der Erwachte nach Sosan trifft doch keine Wahl; wie sollte er da politische Ansichten festhalten oder von Empörung hingerissen werden?
Natürlich geht es nicht darum, an politischen Ansichten oder gar Empörung
anzuhaften. Sollten sie auftauchen, lassen wir sie los so gut es geht. Das sollte aber nicht infrage stellen, dass wir die Gegebenheiten des Lebens realistisch einschätzen lernen, um angemessen handeln zu können. Der Erwachte nach Sosan ist kein abgehobener Schnösel, der über den Dingen schwebt und sich den Anforderungen und der Verantwortung des Augenblicks verschließt. Hierbei geht es i.d.R. um Mitgefühl und Empathie.
Die Meister früher haben ihre Lehre meist in einfache, anschauliche Worte gekleidet. Da hieß es dann z.B.: "Wenn ich einen Durstigen treffe, gebe ich ihm zu trinken. Treffe ich auf einen Hungrigen, so gebe ich ihm zu essen." Die meisten der heutigen Zenies würden dem soweit sicher zustimmen. Schließlich sagst du dem Durstigen nicht: "Sorry, aber als Zen-Praktizierender halte ich mich aus allem raus. Ich treffe keine Wahl; also gebe ich dir auch nichts zu trinken oder zu essen." Mal abgesehen davon, dass hier nichts zu tun, auch einer Wahl entspricht, die getroffen wurde, wird man der Situation mit einer solchen Haltung nicht gerecht. Sie ist schlicht nicht angemessen.
Heute (und wahrscheinlich auch früher schon) ist die Welt dann oft ein bisschen komplizierter. Doch wenn ich heute höre, da wird wo auch immer den Menschen der Zugang zu Wasser und Essen gewaltsam verweigert, dann ist es prinzipiell immer noch genauso unangemessen, zu sagen: "Sorry, aber als Zen-Praktizierender halte ich mich aus allem raus. Ich treffe keine Wahl; also setze ich mich auch nicht dafür ein, dass diesen Menschen dort geholfen wird." Klar, bequem ist eine solche Haltung. Aber das ist, nach meinem Verständnis, nicht, was Sosan uns lehrte und seine Lehre sollte auch nicht als Rechtfertigung für solches Verhalten herangezogen werden.
Ich würde sogar noch einen Schritt weiter gehen und behaupten: Wer nicht bereit ist, den Schritt in die Verantwortlichkeit im Leben (immer genau jetzt) zu gehen, hat nicht viel von Sosans Lehre verstanden. Was soll denn anderes dabei herauskommen, wenn man im "Ohne Wahl" alles loslässt, als das man genau das Angemessene tut und das Unangemessene bleiben lässt? Oder nochmal anders gefragt: Wie wollt ihr den Zustand des "Ohne Wahl" denn aufrecht erhalten, wenn nicht dadurch, dass ihr im Alltag den Umständen entsprecht und das tut, was zu tun ist und das lasst, was zu lassen ist?
Meister Lin-Chi (
Rinzai ) drückt es so aus:
Weggefährten, es ist am wichtigsten, dass ihr lernt, die Dinge klar zu erkennen. So könnt ihr dann eures Weges gehen und der Welt gegenübertreten ... Quelle:
https://zen-kloster.ch/rinzai-schule/
Wie es wohl wäre, ein Erwachter zu sein wie der Hirte im 10. Ochsenbild... ?
Dazu noch mal Meister Lin-Chi (Rinzai):
Er entspricht den Umständen ... Er verhält sich entsprechend, das ist alles. (...) Trifft er Buddha, so redet er mit ihm, trifft er Arahats, so bekommt er mühelos Kontakt mit ihnen und trifft er auf
hungrige Geister , so setzt er sich auch mit diesen auseinander. Wer so leben kann, der geht überall hin, durchwandert die Länder, redet mit den Menschen und lässt sich nicht durch einen einzigen Gedanken in seiner durchdringenden Klarheit beirren. Quelle:
https://zen-kloster.ch/rinzai-schule/