Ich denke, dass man aufhören sollte zu wählen, bedeutet nicht, dass man keine Unterscheidungen mehr treffen sollte. Auch wenn ich den höchsten Weg praktiziere, ist es notwendig zwischen heilsamen und unheilsamen Handlungen zu unterscheiden. Diese Unterscheidung ist ja notwendig, um das Dharma, den höchsten Weg, korrekt zu praktizieren.
Meinst du damit, dass man gemäß Sosans Lehre zwar nicht wählen, aber sehr wohl unterscheiden dürfe? So lässt sich das nach meinem Verständnis nicht auflösen. Mit einer solchen Auslegung werden wir der Lehre Sosans nicht gerecht. 'Ohne Wahl' impliziert selbstverständlich auch ohne unterscheidendes Denken. Sosan spricht ja im Vers Nr.3 bewusst vom "Unterschied". Und in Vers 5 ist nicht umsonst die Rede davon, wie "Verschiedenheit" zur Krankheit des Geistes führt.
In Vers 4 heißt es:
Wenn du es
vor den eigenen Augen haben möchtest,
darf weder Richtig
noch Falsch existieren.
Da hilft es herzlich wenig, wenn man die Worte "Falsch" und "Richtig" durch die in buddhistischen Kreisen wokeren Begriffe "heilsam" und "unheilsam" ersetzt.
Dieses Missverständnis entsteht nach meiner Einschätzung immer dann, wenn man Sosans Lehre (oder die Zenlehre) fälschlicherweise als philosophische Aussage bzw. eine Art Statement über die wahre und richtige Sicht der Dinge versteht. So ist das aber nach meinem Verständnis gar nicht gemeint. Sosan sagt nicht, das begriffliches Denken schlecht wäre oder dass es falsch sei, zwischen richtig und falsch bzw. heilsam und unheilsam zu unterscheiden. Ebensowenig sagt er, dass es falsch wäre, nach Erkennen des Unheilsamen das Heilsame zu wählen. Solche Art von prinzipiellen Aussagen trifft Sosan gar nicht. Was er hingegen tut, ist, einen Weg in das unmittelbare Erwachen aufzuzeigen. Er tut dies übrigens, indem er sich seiner (und unserer) Fähigkeit des begrifflichen Denkens und Unterscheidens bedient.
Mithilfe unseres begrifflichen Denkens haben wir ja gelernt, uns vor dem Ansturm der Phänomene und Impulse zu schützen; wir haben sie quasi gezähmt, strukturiert und dabei unser menschentypisches Bewusstsein kultiviert. Begriffliches Denken erscheint in unserem Geist von Augenblick zu Augenblick quasi reflexhaft auf jede Art von Ereignis. Die Befreiungslehre des Zen (bzw. Buddhas Lehre) eignet sich genau für dieses menschliche Bewusstsein. Sie stellt nicht dieses Bewusstsein und seine Mechanismen wie etwa unsere brilliante Fähigkeit zu unterscheiden in Frage, sondern weist einen Ausweg aus den mit diesen Fähigkeiten einhergehenden Verblendungen. Denn unsere permanente Fixierung auf eine gerade getroffene Unterscheidung/Vorstellung verstellt des Blick auf unsere ursprüngliche Natur in ihrer Soheit. Das heißt aber nicht, dass du, wenn du das nächste mal auf der Straße stehst und ein Auto auf dich zugerast kommst, nicht zwischen Straße und Auto unterscheiden und die Wahl treffen solltest, schleunigst aus dem Weg zu gehen.
Man kann das Shinjinmei sehr angemessen als ganz konkrete Praxisanleitung lesen, wie man immer genau jetzt die große Befreiung verwirklichen kann:
Der höchste Weg
ist nicht schwierig,
nur ohne Wahl.
"
Nicht schwierig" - bedeutet, genau jetzt die Vorstellung von schwierig und einfach und damit das gesamte dualistische Denken loszulassen. Inklusive falsch und richtig, heilsam und unheilsam usw.
"
Ohne Wahl" - bedeutet, genau jetzt in
dasjenige einzutreten, das du bist, bevor du die nächste reflexhafte Wahl triffst. Wobei mit "Wahl" oder, wie es in Vers 8 heißt, mit "Ergreifen" auch schon das Ergreifen der nächsten Vorstellung gemeint ist - und sei es selbst nur die Bennenung einer Wahrnehmung. 'Ohne Wahl' bedeutet nicht, eine einmal getroffene Wahl nachträglich gedanklich zu relativieren, sondern Vergangenes loszulassen und vor dem Enstehen des nächsten Ergreifens im Zustand des "ohne Wahl" zu weilen.